Zum 15. Jahrestag der "samtenen Revolution"

Erinnern Sie sich noch an die Bilder aus Prag vom November 1989? Hunderttausende Demonstranten protestierten tagelang gegen das kommunistische Regime und leiteten somit einen Regimewechsel ein, der weitgehend gewaltfrei verlief – die „Samtene Revolution“. Das Wort „samten“ fand Michael Frank, Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, für die Revolution, die ursprünglich „Sanfte Revolution“ hieß, sehr passend: weich und glänzend, aber auch dick und tiefschichtig.

Kaum etwas wurde in den österreichischen Medien zum 15. Jahrestag der Samtenen Revolution in der damaligen Tschechoslowakei berichtet. Selbst damals noch zu jung, um die Vorgänge zu verstehen (ich war 11 Jahre alt), interessieren mich die Hintergründe zu den oftmals und immer noch wiederholten Bildern umso mehr.

Eine gute Gelegenheit, mehr über die Vorgänge im November 1989, davor und danach, zu erfahren – noch dazu aus erster Hand -, bot eine Veranstaltung von der Tschechischen Botschaft in Wien, gemeinsam mit der Tageszeitung „Der Standard“. Diese luden am 26. November 2004 ins Palais Trauttmansdorff, um mit illustren Podiumsgästen und etwa 50 geladenen Personen an den 15. Jahrestag der Samtenen Revolution zu erinnern.

Nach der Begrüßung von „Hausherr“ Oscar Bronner, erinnerte der tschechische Botschafter in Wien, Rudolf Jindrák, an die „helfende Hand“, die Österreich vor allem tschechischen Dissidenten bot. Moderator Josef Kirchengast verwies zu Beginn auf die aktuellen ukrainischen Proteste, die hoffentlich ebenso sanft verlaufen würden.

„Träumen von Europa“ nannte Jiří Dienstbier sein 1986 zuerst im Samisdat herausgegebenes Buch, damals im Untergrund, nach Gefängnisaufenthalt und Berufverbot als Heizer tätig – und fand sich 1989 plötzlich als erster nicht-kommunistischer Außenminister wieder. „Anfang November hatten wir noch keine Ahnung, dass wir Minister und Präsidenten werden“, so Jiří Dienstbier. Er erzählte von den Treffen im Keller der „Laterna Magica“, gespannt zwischen der Verteilung der Regierungsämter und der Befürchtung, die Staatspolizei könnte sie doch noch stürmen. Halb scherzhaft fügte er hinzu: „Nie wieder wird eine Regierung so verantwortungsbewusst zusammengestellt werden“. Auch wenn er sich zuerst (ich glaube frei nach Voltaire) fragte: „Was tu’ ich um Gottes Willen auf dieser Galeere?“, so verfügten die Oppositionellen doch meist über mehr Kontakte zum „Westen“ als die Mitarbeiter im Außenministerium.

Karl Fürst Schwarzenbergs Problem bestand im November 1989 vorerst darin, überhaupt nach Prag reisen zu können. Er war in der Tschechoslowakei nicht erwünscht und bekam deshalb kein Visum. Doch die politische Situation wandelte sich, Schwarzenberg wurde Kanzleichef des neugewählten Präsidenten Havel. Schwarzenberg bezeichnete sich – mit dem gewohnten Understatement – nur als „Wasserträger der Revolution“. Seine erste Aufgabe bestand darin, überhaupt einmal einen Bürobetrieb möglich zu machen, indem er nach Österreich fuhr und sein Auto mit Faxgeräten und Ähnlichem voll packte. Ein weiterer Wunsch, der an ihn herangetragen wurde: Zeitungspapier mitzubringen, da dieses damals noch zugeteilt wurde und oppositionelle Zeitungen keines bekamen.

Der ehemalige österreichische Botschafter in Prag, Karl Peterlik, sprach vor allem über die österreichisch-tschechischen Beziehungen in seiner Prager Zeit - 1963-1969 als Attaché, 1989 als Botschafter. Zusammenfassend stellte er fest, dass diese Beziehungen von einem ständigen Auf und Ab geprägt waren: sobald sich die Beziehungen verbesserten, gab es einen (Grenz)Zwischenfall, der das Verhältnis wieder abkühlen ließ. Nach und nach gab es aber immer mehr Kontakte (auch zu Dissidenten) und Lockerungen.

Als „Knackpunkt“ wurde von den Podiumsgästen die Demonstration im August 1988 zum 20jährigen Jubiläum des Einmarsches der sowjetischen Truppen und der Selbstverbrennung von Jan Palach gewertet. Sie stellte – als erste große seit 1968 - einen Tabubruch dar. Auch viele junge DDR-Bürger, die sich gerade in Prag befanden (sie durften nur noch nach Ungarn und Tschechien reisen) erlebten so ihre erste Demonstration.

Spannend und amüsant zugleich waren Schwarzenbergs und Franks Anekdoten, wie bereits Wochen und Monate vorher langsam spürbar wurde, dass sich das Regime nicht mehr lange halten würde. Wie Schwarzenberg und andere ein paar Wochen vorher knapp einer Verhaftung entgingen; warum der Staatspolizist, der Havel überwachte, für diesen Bier holen ging; wie Dissidenten und Vertreter der katholischen Kirche mit der Zeit langsam zueinander fanden; wie Frank seine Informationen vom „obersten Informationsverhinderer“ erhielt; oder wie eine Rede von Miloš Jakeš, Generalsekretär der Kommunistischen Partei, heimlich mitgeschnitten wurde und in allen Hinterzimmern, wo sie vorgespielt wurde, brüllendes Gelächter auslöste. Wenn alle über den „mächtigsten Mann der Tschechoslowakei“ nur noch lachten, dann war es um das Regime wohl geschehen...

Dass Havel der neue Machthaber werden würde, war jedoch nicht von Anfang an so klar, wie es heute scheint, wenn wir Berichte über die damaligen Vorgänge sehen. Zuerst wurde „Komarek na Hrad“ gerufen, später „Dubček na Hrad“ – als dann daran erinnert wurde, dass Dubček doch auch ein Kommunist sei, wurde endlich „Havel na Hrad“ gerufen. (Erhellend fand ich übrigens auch, dass Dienstbier darauf hinwies, dass Havel bürgerlicher Oppositioneller und nicht Dissident gewesen sei.)

Für mich, die nur wenige Fernsehbilder und das Ergebnis der Samtenen Revolution kennt, waren die Eindrücke, die Michael Frank von den Tagen der Demonstrationen lieferte, besonders interessant. Neu war für mich etwa, dass die Demonstration eigentlich dem Gedenken an NS-Verbrechen von 1939 gewidmet – und daher bewilligt - war und sich zu einem Protest gegen die kommunistischen Machthaber entwickelte (ob das von der Staatsführung bewusst in Kauf genommen wurde, ist umstritten). Der Enthusiasmus, den man allgemein in Erinnerung hat, war aber bei der Bevölkerung mit tiefer Skepsis gepaart, so Frank. „Gehen wir wieder in eine Falle, so wie 1968?“

Die weitere Diskussion zeigte, dass die Samtene Revolution und die Vorgänge im November 1989 nicht so klar und einheitlich gesehen werden, wie es entfernten Beobachtern scheinen mag. Auch 15 Jahre später gibt es noch viele Interpretationen, viele Mythen, viele Fragezeichen.

Abgerundet wurde der Abend durch einen Sprung in die Gegenwart, die Enttäuschung vieler Bürger über die politischen und sozialen Entwicklungen seit 1989. Auch die österreichisch-tschechischen Beziehungen sind wohl immer noch als etwas seltsam zu bezeichnen. Nicht nur, dass die Geschichte – etwa die Ermordung Přemysl Ottokars oder die Schlacht am Weißen Berg - immer noch prägend ist, so wurde Jiří Dienstbier von Journalisten vorher zu den bilateralen Beziehungen befragt – nämlich zu den 200 kaiserlichen Stühlen, den Beneš-Dekreten und Temelín...

Vielleicht hat Karl Schwarzenberg Recht, wenn er meint, dass man eine „geschichtsmächtige Kraft“ nie vergessen dürfe, die regiert und in der Geschichte immer die wesentlichste Rolle spielt: Die Dummheit!

Nadja Wozonig, 2. Dezember 2004