Was ist Europa für mich?

Lesen (Leseunterricht, herauslesen, erlesen, belesen, ablesen, Lesestoff, Leserei, Leserin, leserlich, auserlesen, Leserschaft, Leser, Leseprobe, Lesung, Lesenlernen, Ährenlese, Lesen, zusammenlesen, Weinlese, Weinleser, Weinleserin, querlesen, Nachlese, nachlesen, durchlesen, Lesehore, Lesefrucht, Blütenlese, drüberlesen, verlesen, vorlesen, Vorleser, Vorleserin, Vorlesung, einlesen, auflesen, Auslese, auslesen, Wohlbelesenheit, Traubenlese, Traubenleser, Traubenleserin, Lesebuch, lesbar)

In Büchern las ich ab und auf Sätze, deren Baustein einer das Wort Europa war; fand jedes Mal ein anderes Plateau, Europa neu im Blick. - Ich lade ein, die Aussicht zu genießen. Willkommen sind Ergänzungen von dir und mir und euch.

Gottfried Benn (1998)

Alaska

Europa, dieser Nasenpopel
Aus einer Konfirmandennase.
Wir wollen nach Alaska gehen ...

Die Andere Bibliothek, herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger, Die Welt der Encyclopédie, editiert von Anette Selg & Rainer Wieland, Eichborn, Frankfurt am Main 2001

Louis de Jaucourt

Europa - Europe (Geographie). Großer Landstrich der bewohnten Welt. Die vielleicht wahrscheinlichste Etymologie leitet das Wort Europa vom phönizischen urappa her, das in dieser Sprache "weißes Gesicht" bedeutet, ein Epitheton, das man der Tochter von Agenor, der Schwester von Kadmos, gegeben haben könnte, das aber zumindest auf die Europäer zutrifft, die weder braun sind wie die Südasiaten noch schwarz wie die Afrikaner.

Europa hatte nicht immer denselben Namen noch dieselbe Aufteilung hinsichtlich der wichtigsten Völker, die es bewohnten; & was deren Zusammensetzung angeht, so läßt sie sich unmöglich im einzelnen angeben, da es keine Historiker gibt, die uns einen Faden an die Hand geben können, der imstande wäre, uns aus diesem Labyrinth herauszuführen.

Doch ich will in diesem Artikel Europa nicht so betrachten, wie es die Alten, deren Schriften uns überliefert sind, gekannt haben, sondern nur ein Wort zu seinen Grenzen sagen.

Es erstreckt sich in seiner größten Länge vom Kap St. Vincent in Portugal & der Algarve an der Küste des Atlantischen Ozeans bis zur Mündung des Obi am Nordmeer über eine Entfernung von 1200 französischen oder 900 deutschen Meilen. Seine größte Breite, vom Kap Matapan im Süden von Morea bis zum Nordkap im nördlichsten Teil Norwegens, beträgt etwa 733 französische oder 550 deutsche Meilen. Im Osten wird es von Asien begrenzt, im Süden von Afrika, von dem es durch das Mittelmeer getrennt ist; im Westen vom Atlantischen Ozean & im Norden vom Eismeer.

Ich weiß nicht, ob man die Erde zu Recht in vier Teile teilt, von denen einer Europa ist; zumindest scheint die Einteilung nicht exakt zu sein, weil man dabei die Arktis & die Antarktis nicht berücksichtigt, die, obzwar weniger bekannt als der Rest, dennoch existieren & einen freien Platz auf den Globen & Landkarten verdienen.

Wie dem auch sei, Europa ist noch immer der kleinste Teil der Welt; doch hat es wie Montesquieu im Geist der Gesetze anmerkt, eine solche Macht erlangt, daß sich in der Geschichte fast nichts mit ihm vergleichen läßt, wenn man die ungeheuren Ausgaben betrachtet, die Höhe der Verpflichtungen, die Zahl der Truppen & die Stetigkeit ihres Unterhalts, auch wenn sie völlig nutzlos sind & man sie nur aus Prahlerei beibehält.

Im übrigen ist es unwichtig, dass Europa in Hinsicht auf die Größe des Terrains der kleinste der vier Erdteile ist, da es in Hinsicht auf seinen Handel, seine Seefahrt, seine Fruchtbarkeit, die Aufgeklärtheit & den Fleiß seiner Völker der angesehenste ist, ebenso durch die Kenntnis der Künste, der Wissenschaften, der Handwerke & vor allem durch das Christentum, dessen wohltätige Moral nur das Glück der Gesellschaft erstrebt. Wir verdanken dieser Religion in der Regierung ein gewisses politisches Recht & im Krieg ein gewisses Recht der Menschen, das die menschliche Natur gar nicht hoch genug veranschlagen kann, da sie, wiewohl sie nur die Glückseligkeit eines anderen Lebens zum Gegenstand zu haben scheint, uns auch in diesem glücklich macht.

Europa wurde in den ältesten Zeiten Keltenreich genannt. Es liegt zwischen dem 9. & 34. Längengrad & zwischen dem 34. & 73. Grad nördlicher Breite. Über die weiteren Einzelheiten werden die Geographen den Leser unterrichten.

Die Andere Bibliothek, herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger, Die Welt der Encyclopédie (1751-1772), editiert von Anette Selg & Rainer Wieland, Eichborn, Frankfurt am Main 2001. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer

García de Marlones (1601-1658)

...Antlitz der Welt ist Europa, das die Blicke auf sich zieht, ernst in Spanien, lind in England, munter in Frankreich, klug in Italien, frisch in Deutschland, faltig in Schweden, sanft in Polen, lieblich in Griechenland und düster in Moskowien. ...

Das Kritikon, Ammann Verlag, 2001. Aus dem Spanischen übersetzt und kommentiert von Hartmut Köhler

ernst jandl (1925-2000)

offener brief an einen großen alten mann

... wir haben beide die nazis und den zweiten weltkrieg erlebt, sie als ein ein aufstrebender junger professionalist, ich als ein zu boden getretener gymnasiast - doch wir haben aus dieser schrecklichen zeit vermutlich nicht die gleichen konsequenzen gezogen. aber sie hatten auch nicht dr. anton sieberer zum lehrer, der uns von der vision eines pan-europa erzählte, ohne krieg, ohne diktatur, ohne verfolgung. mit glühenden wangen hörten wir ihm zu, und von dem schon lange verstorbenen mann haben wir noch immer die botschaft im herzen: "auf zu einem vereinten europa!"

lechts und rinks, gedichte statements peppermints, dtv 2001

Jaques Le Goff

Europa bauen

Europa wird gebaut. Getragen von großen Hoffnungen. Doch erfüllen werden sie sich nur, wenn sie der Geschichte Rechnung tragen. Ein geschichtsloses Europa wäre ohne Herkunft und ohne Zukunft. ...

Die aus der Initiative von fünf Verlegern unterschiedlicher Sprache und Nationalität entstandene Reihe "Europa bauen" will die Gestaltung Europas und seine nicht zu unterschätzenden Erfolgschancen erhellen, ohne die überkommenen Schwierigkeiten zu vertuschen. Daß dieser Kontinent in seinem Streben nach Einheit so manch internen Zwist, so manchen Konflikt, so manches Trennende und Widersprüchliche erst überwinden mußte, soll in dieser Reihe nicht verschwiegen werden, denn wer sich auf das Unternehmen Europa einlassen will, muß die gesamte Vergangenheit kennen und eine Zukunftsperspektive besitzen. ...

Umberto Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, dtv 2002. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber

Friederike Mayröcker (*1924)

Während der Himmel in Purpurflächen ertönt - Europa-Rede am 28. 10. 1993 in der Münchner Philharmonie

...Ich frage mich inständig, was verbindet mich selbst mit Europa, wenn nicht das Umgehen mit der Kunst: mit der Kunst der Bilder, mit der Kunst der stillen Objekte im Raum, mit der Kunst der Sprache, mit der Kunst der Töne, und immer wieder, immer von neuem ist das die leidenschaftliche gleichzeitig leidenschaftslose Beschäftigung mit der Dialektik von Schönheit und Ausdruck, von Form und Inhalt, mit dem psychischen Prozeß der Assoziation von Bildern, Gedanken, Empfindungen, Träumen.

...Europa: diffuses Bild, oder Einheit in der Vielfalt?

Europa: phönikische Prinzessin, aus Tyros von Zeus entführt, der, verblüffend-prachtvoll ins tiefe Fell eines Stieres verkleidet, mit silbrigen Pelzen, diamantenen Spangen geschmückt, den Unterflaum flachsblond, die Knöchel mit glänzender Asche bedeckt, aus dem Wintergebüsch tritt und sogleich das Herz der Prinzessin erobert.

Europa, das ist kastilische Quelle in Delphi, Orakelquelle, Gleichnis für Poesie, Wortkunst, MANIA.

Europa, das sind meine Großeltern mütterlicherseits, wie sie in jugendlicher Zeit- und Weltvergessenheit hüpften, wirbelten, sich drehten, vergnügten im Takt der Polka- und Walzermusiken, in den großen Ballsälen der Stadt, den Sträußelsälen, Sofiensälen. Theresiensälen, das damals neue Jahrhundert grüßend. Und dann, meine Eltern, wie sich die schmachtenden Tangos tanzten, in den Zwanzigerjahren, und beide Male war es ein Tanz auf dem Vulkan - wir wissen alle, was danach geschah, und wie alles zum Schlimmsten sich wenden sollte.

In anderer Augen, Die Staaten der Europäischen Union in der österreichischen Literatur. Hgg. von Marianne Gruber, Manfred Müller, Helmuth A. Niederle. Wieser Verlag 1998

Inge Müller (1925 - 1966)

Europa

In den Gaskammern
Erdacht von Männern
Die alte Hierarchie
Am Boden Kinder
Die Frauen drauf
Und oben sie
Die starken Männer:
Freiheit und democracy.
Ein Blick von einer Macht zur andren Macht.
Von einer Nacht in die andre Nacht
Und dazwischen: vide! (Ich sehe)
Da nehm ich mir lieben einen Fetzen Blau
Vom Himmel
Daß der schwarz dahinter ist weiß ich
(Aber nur weils geschrieben war)
Ich seh ihn, wenn ich weine
Und dann weiß ich nicht wie er war.

Wenn ich schon sterben muß, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1985

SteVe, 15. Dezember 2002