Viadrina: Neue Grenzen am alten Platz

"Hier studieren heißt, eine Schengen-Außengrenze zu studieren!" meint die junge polnische Wirtschaftswissenschafts-Studentin der "Universitas Viadrina" in Frankfurt an der Oder. Die Grenzkontrollen sind uncharmant wie in alten Ostblocktagen: geschmuggelte Autos, Zigaretten, Menschen, Lebensmittel – auf alles wird Jagd gemacht. Mit Stickstoffsonden, Spiegelböden, Hohlraumtastern – und vor allem mit dem allmächtigen Schengen-Computer in dessen Scanner mit quälender Langsamkeit jeder Pass geprüft wird. Die Grenze, für deren Überwindung diese Pro Europa Region "Viadrina" eine Hilfe hätte sein sollen – sie wurde zu ihrem größten Hindernis.

Es war ein riesiges Volksfest als vor zehn Jahren die Universitas Viadrina aus der Taufe gehoben worden war. Eine geniale Idee: die alte Oder-Stadt Frankfurt und ihre frühere Dammvorstadt Slubice sollten durch das Band der Wissenschaft wieder vereint werden. Eine Universität auf dem linken Oder Ufer in der ehemaligen DDR und ein Collegium auf der anderen Seite, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg polnisch geworden war. Wohnheime für Studenten hüben wie drüben. Sie werden miteinander wohnen, studieren, feiern. Rund um diese studentische Verbindung sollte blühen, was die beiden getrennten Teile wieder zusammen wachsen lässt: sportliches, kulturelles, gesellschaftliches. Alles mitfinanziert mit Geldern aus dem Interreg-Programm der EU und unter dem alten lateinischen Namen für die Oder "Viadrina". Um dem Collegium Polonium den richtigen Mantel zu geben und es in die polnische Universitätslandschaft richtig einzubauen, wurde gleich auch mit der Adam Mickiewicz Universität in Posen eine Partnerschaft eingegangen, deren Dependance nunmehr das Collegium Polonium in Slubice ist.

Die Aufbruchstimmung war groß und heute noch sehe ich das Fest durch den Schleier der Freudentränen. Wyberowa floss in Strömen, Bier, Wein. Die herrlichen Krautwickler wurden im Freien gebraten. Es war eine der ersten Pro Europa Regionen und es sollte die schönste werden. Davon waren alle überzeugt.

Karl Dedecius, damals gerade 70-jähriger Doyen der deutsch-polnischen Freundschaft, Übersetzer und Schriftsteller, der Mann der "das Verständnis für Polen tief nach Deutschland getragen hat und das Verständnis für Deutschland tief nach Polen" wie der Festredner damals betonte, endete seine Ansprache mit dem berühmten Ausspruch seines großen Vorbildes, Adam Mickiewicz: "Liebet Euch!"

Jetzt sind zehn Jahre ins Land gezogen und viele Hochwässer den Oderbruch hinunter geflossen. Die Universitas Viadrina steht schmuck da in ihrem ehrwürdigen alten Haus. 3800 StudentInnen arbeiten hier unter modernsten Bedingungen. Ein Drittel davon sind aus Polen, das steht in den Gründungssatzungen. Bemerkenswert auch sonst der hohe Anteil ausländischer Studierender. Fast aus allen Ländern Europas kommen sie. Keine Frage: die Europa-Universität an der Oder ist die erste Adresse für alles, was mit dem polnischen Raum zusammenhängt.

Wohnen im billigen Polen

Man wohnt in Frankfurt. Nur die Studenten aus Polen nehmen die Mühen der Schengen-Außengrenze auf sich: in Slubice reichen die Finanzen doch besser. Die StudentInnen aus dem "Westen" verkneifen sich den Wunsch mit ihren Finanzen im billigeren Polen besser zu leben. Früher einmal war die Dammvorstadt mit der Straßenbahn zu erreichen. Heute verbindet nicht einmal ein Bus die beiden Stadtteile.

Das Collegium Polonium wird langsam ganz zur polnischen Hochschule. StudentInnen aus der überwiegend agrarisch strukturierten Region finden hier eine Bildungsmöglichkeit direkt vor der Haustüre. "Hinüber" kann nur gehen, wer gut Deutsch kann. Und das sind wenige in Polen, in dem nach der Wende Englisch die bevorzugte Fremdsprache geworden ist – anstelle von Russisch.

Zusatzdiplom als Job-Garantie

Wer Deutsch kann studiert Jura. Zusammen mit dem Zusatzdiplom "Polnisches Recht" der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen ist das in dieser Region immer noch eine Job-Garantie. Bei den Wirtschaftswissenschaften trennen die Sprachen: da bleiben Polen und Deutsche schon lieber unter sich. Die dritte Fakultät – Kulturwissenschaften – führt ein Schattendasein; gibt aber der Uni ihre besonders hohe Reputation. Die Polonistik ist sicherlich ein Aushängeschild der Universität – demnächst wird sie sogar als Fernlehrgang angeboten.

Ebenfalls auf den Fernlehrsektor drängt das Collegium Polonium mit einem Kurs über Politikwissenschaften. Dieser Kurs in polnischer Sprache schließt eine große Lücke des nachkommunistischen Polen: Kunde und Funktionsweise demokratischer Einrichtungen. Mit Politikwissenschaften in unserem Sinn, hat das noch wenig gemein.

Die beiden Teile sind nicht zusammengewachsen. Vor allem nicht, was die Berufsausbildung betrifft. Da diktieren doch die Finanzen, Zuschüsse und Stipendien das Tempo. Bei den Juristen ist es immerhin die Wahlstation "Ausland" und "Wissenschaft" die zu einem Zusatzstudium an dem Collegium Polonium zusammengelegt werden kann – Brandenburg sei dank!

Im postgradualen Bereich sind Auswirkungen spürbar. Dissertantenprogramme, Fellowships, Habilitanten sorgen für einen kulturellen Austausch und damit für ein weltoffenes Klima – allerdings nur innerhalb der Universitas Viadrina. Diskussionsveranstaltungen mit überraschend hoher Beteiligung von "außen" machen die Universität zu einem Ort der Begegnung mit einem neuen Bildungsbürgertum, das weltoffener werden will.

Tretminenfeld der Geschichte

Die Geschichte hat ein Feld von Tretminen gerade in dieser Region ausgelegt. Erstaunlich, wie sicher man sich auf diesem Terrain bewegt. Wie sehr kann man den "Deutschen Kulturraum" betonen, ohne Revanchist zu sein? Deutsche Nation, Deutsche Geschichte, Deutsche Kultur, Deutscher Geschichtsraum – was ist das? So ganz genau wissen wir nicht einmal, was der Deutsche Orden war, der doch so nachhaltig alle diese Länder prägte; von der Brandenburg bis ins Baltikum. Mediävisten erforschen in Frankreich das Mittelalter. "Im Alltag spreche ich Französisch, Arbeitssprache ist Lateinisch und auf Deutsch publiziere ich." Beschreibt er seine Arbeitssituation. Jetzt will er sich des Deutschen Ordens annehmen. Da gibt es noch wenig, auf dem man wirklich aufbauen könnte. Das Mittelalter war nicht Deutsch – auch nicht französisch. Es war vielleicht mehr europäisch als man derzeit mit allen Integrationsbemühungen erreicht hat. Mit Latein als linqua franka. Der fränkischen Sprache.

Die Konturen verwischen: wer war eigentlich Kopernikus? Wie selbstverständlich wird er als Deutscher bezeichnet – hier. Und als Pole – dort. In Krakau hat er studiert, in Pisa den Sternenhimmel kennen gelernt und im nebeligen Fromburg im baltischen Ostseegebiet seine Berechnungen angestellt, die in Nürnberg gedruckt worden sind. In welcher Sprache er schrieb wissen wir, Lateinisch, aber in welcher dachte er? Wie unterhielt er sich mit den Gelehrten, wie mit den "anderen"?

Adam Mickiewicz, polnischer Dichter, geboren in Zaosie (heute Nowogrudok, Weißrussland) am Weihnachtstag 1798, gerade 22 Jahre nachdem die Teilerei Polens begonnen hatte. Er hatte es noch erlebt, dass seine Heimat auf ein kleines Stück zusammengeteilt worden ist – Kongresspolen. Er war ein Pole ohne Heimat, als er in Konstantinopel starb.

Dedecius kam 1921 auf die Welt, als Lodsch noch deutsch war. Ein Pole mit lateinischem Namen, ein Weltbürger, den auch der nationalistische Ausbruch Deutschland nichts ausmachte und der auch in der nachfolgenden Welt sich zurechtfand; in der Welt, die in Teheran und auf der Krim konstruiert worden ist. Als die Deutschen vertrieben und die Polen aus den anderen Teilen dorthin kamen. Als Polen nach Westen rückte, um in den Ostblock zu kommen.

Ein junger Student spricht die Oder-Neiße-Linie an. Er hat in einem Buch darüber gelesen. Als er auf die Welt kam, hatte sich Brandt schon in Polen entschuldigt. Die Ostgrenze war kein Thema mehr. Wie ein französisches Parfum sprach sie Charles de Gaulle aus: Eau d´nice.

Ende der Reisefreiheit

Die jüngere Geschichte polarisiert doch mehr. Die Zeit der so genannten "Reisefreiheit" in den 70er Jahren als Bürger der DDR, Polens und der Tschechoslowakei nur mit dem Personalausweis und ohne Pass in die jeweils anderen Länder reisen durften. Als die "Polenarbeiter" kamen, belächelt, weil noch ärmer als die immerhin doch kuschelige DDR. Und als dies alles vorbei war in den 80er Jahren und man im Westfernsehen sah, dass in Polen die Freiheit erste aufmüpfige Gastspiele gab. Und die vielen Polenwitze – aus der untersten Schublade – die damals von den DDR-Kommunisten gestreut worden waren.

Erst die Mauer, dann auch noch das Ende der Reisefreiheit. Hier hatte man es besonders krass empfunden, hier wo man so nahe beisammen lebte und immer wieder gemeinsam mit dem Oder-Hochwasser kämpfen musste.

Ja ich war zwei mal in der Europaregion Viadrina und es waren verschiedene Regionen. 1991 war man glücklich, den Albtraum Kommunismus überwunden zu haben. Man war solidarisch, weil man aus dem gleich Lager kam und das gleiche Ziel hatte: nach Europa zu kommen. Europa, das so lange im Nebelvorhang der Propaganda der Sowjetunion versteckt geblieben ist.

Jetzt ist die DDR endgültig Geschichte und Frankfurt an der Oder ist in der EU. Ist also in Europa. Drüben ist man es noch lange nicht. Und wenn sie kommen, hat man Angst. Angst um den Arbeitsplatz. Jeder Fünfte hat hüben wie drüben keinen. Und das nährt die Angst noch mehr. 1991 waren es die Leidensgenossen unter KP-Joch. Jetzt sind es Konkurrenten um einen Wohlstand, der sich so absolut nicht einstellen mag.

Und schon jetzt sieht man, dass auch Geld aus Brüssel auf der anderen Seite der Oder nichts bewirkt: das Interreg Geld darf nur innerhalb der EU vergeben werden, für die Förderung auf polnischer Seite ist das PHARE CBC Programm zuständig. Das wird über Warschau abgerechnet. Und dann noch im Marschallamt der zuständigen Woyewodschaft. Auf beiden Seiten der Oder vermutet man, dass das irgendwo im innerpolnischen Straßenbau oder sonst wo versickert.

Im Interreg III das immerhin schon seit einem Jahr laufen sollte, müssen die Regionen grenzüberschreitende Projekte vorlegen und dazu gemeinsam einkommen, auch wenn die Projekte aus verschiedenen Töpfen bezahlt werden. Dadurch meint man in Brüssel, werden bis 2006 die Grenzen verschwinden.

Das Gegenteil dürfte kommen: jetzt wird erst sichtbar, wie unterschiedlich die Bürokratie ist. Wie wenig sie auf einen gemeinsamen Nenner kommt. Beide wollen nach Brüssel, aber weil man drüben schon im Marschallamt versickert, kommt man herüben nicht einmal nach Potsdam.

Sie wollten beide nach Europa – so ganz richtig angekommen ist noch keiner.

Wolfgang F. Vogel, 3.10.2001