Und er zeigt nicht nach Westen

Der russische Zar Peter I., der „Große“, (1672-1725) gründete der Überlieferung nach im Mai 1703 mitten im Nordischen Krieg St. Petersburg als Fenster zum Westen. Diesen Krieg hatte er mit seinen Verbündeten Dänemark und Polen gegen die die Ostsee beherrschenden Schweden angezettelt, um sich im Norden zu verschaffen, was im Süden misslungen war – einen Zugang zum Meer. Er tat dies nicht nur, um seine unrussische Leidenschaft für alles Maritime zu befriedigen, sondern weil er erkannt hatte, dass Seemacht gleich Handelsmacht ist, Handel Reichtum bringt und Reichtum wiederum die Quelle politischer und militärischer Macht darstellt.

Peter, gleichzeitig reaktionärer Autokrat und revolutionärer Reformer, verpflichtete westeuropäische Experten und förderte die Verbreitung moderner Technologien. Sobald er die Sumpfregion an der Newa erobert hatte, setzte er sich dort zielstrebig fest. 1712 dauerte der Nordische Krieg immer noch an, aber das Kriegsglück und die Ressourcen waren schon auf Peters Seite, und so verlegte er die Hauptstadt des russischen Reiches nach St. Petersburg. 1721 ging der Nordische Krieg mit der Niederlage der Schweden zu Ende und Peter sass fester denn je in der Stadt, die nicht seinen, sondern den Namen seines Namenspatrons trägt. Wer’s glaubt!

Robert K. Massie schreibt in seiner äußerst lesenswerten Peter-Biografie: “Die Stadt repräsentiert in Stein gemeißelt alle wichtigen Ereignisse in Peters Leben: seine Flucht vor den düsteren Intrigen, den kleinen Fenstern und den gewölbten Zimmern in Moskau, seine Ankunft am Meer, die Öffnung zu westeuropäischer Technologie und Kultur. Peter liebte seine Schöpfung. Er fand endlose Befriedigung in der großen Flussmündung, an den Wellen, die sich an der Peter-Paul-Festung brachen, am salzigen Wind, der die Segel seiner neuen Schiffe vorantrieb. Der Bau der Stadt wurde zur Leidenschaft. Kein Hindernis war zu groß, um seine Pläne zu vereiteln. Darauf verschwendete er seine Kraft, Millionen von Rubeln und Tausende Menschenleben.“

Vor allem die auf Peter folgenden Zarinnen Elisabeth (1709-1762) und Katharina II (1729-1796) verfielen ebenfalls dem Bauwahn und waren wesentlich am heutigen Aussehen der Stadt beteiligt. Katharina war es auch, die Peter ein Denkmal setzen ließ, jenen von Alexander Puschkin (1799-1837) verewigten Ehernen Reiter, von dessen Hand in beinahe jedem Reiseführer zu lesen ist, dass sie „mit imperialer Geste“ nach Westen weise und somit quasi Peters politisches Programm darstelle, Russlands Verankerung in Europa.

Nun, ich hatte keinen Kompass dabei, aber dem Sonnenstand nach zu urteilen, zeigt Peters Arm ganz sicher nicht nach Westen, sondern eher nach Norden oder Nordosten. Eine ganz andere politische Botschaft? Wohl kaum, denn Peter stürzte mit seiner Nachahmung alles Westeuropäischen und seinen militärischen Erfolgen Russland tatsächlich in eine Identitätskrise, die bis heute weiter schwelt. Ist Russland – völlig unabhängig von seinem gescheiterten sowjetischen Experiment – ein Teil Europas, Chinas Gegenspieler in Asien oder auf einem dritten Weg, durch seine spirituelle Kraft die Erlösung der Welt bringend, wie es die Slawophilen glaubten und immer noch glauben.

St. Petersburg mit seinen prachtvollen Bauten, seinen breiten Boulevards, seinem reichen kulturellen Erbe und seiner mittlerweile wieder weltoffenen Haltung gibt darauf eine eindeutige Antwort.

Margareta Stubenrauch, 22. August 2004