Neue Horizonte für Europa

Einer der „Stars“ des Abends, der französisch-deutsche Abgeordnete der Grünen im EU-Parlament, Daniel COHN-BENDIT, sprach über die allgemeinen Errungenschaften der EU, über die die Historiker schreiben werden: „Es ist ein Wunder!“ Er sprach weiters über die drei Prinzipien, auf denen die EU fuße: Freiheit (auch vor der Religion), Solidarität und Souveränität (auch die Souveränität der Menschen, denen Schutz vor den Auswirkungen der Globalisierung geboten wird).

Botschafterin Irena LIPOWICZ, nun Sonderbeauftragte des polnischen Außenministers, sprach über die Enttäuschung, dass zwar die Freiheit von Waren und Kapital gegeben sei, aber man auch von den Menschen gesprochen habe, die sich allerdings noch nicht so grenzenlos bewegen könnten. Durch den Abend zog sich auch eine teilweise heftige Debatte zwischen Daniel COHN-BENDIT und Irena LIPOWICZ über die Frage der Religion in der Politik. Während COHN-BENDIT – so wie auch der EU-Abgeordnete der Grünen, Johannes VOGGENHUBER – jeglichen Einfluss der Religion in der Politik ablehnt, widersprach LIPOWICZ. Bezogen auf COHN-BENDITS Bemerkung, dass Freiheit in der EU auch Freiheit vor der Religion bedeutet, die reine Privatsache sei, meinte LIPOWICZ, dass für (auch nicht-gläubige) Polen die Religion Freiheit bedeute: „Die Letzten, die uns von der Religion befreit haben, waren die Kommunisten!“ Im Zuge der weiteren Debatte ließ sie sich leider zu sehr in die Rolle der Vertreterin der von diversen polnischen Politikern vertretenen Positionen etwa zur Frage der Religion und Ablehnung von Homosexuellen(-Demonstrationen) drängen.

Der zweite Star des Abends, die als mögliche künftige Präsidentin Frankreichs gehandelte französische sozialistische Politikerin Ségolène ROYAL, ging hauptsächlich auf das „Nein“ der Franzosen zur europäischen Verfassung ein. Sie nannte als Gründe, dass die Franzosen einen starken, homogenen, zentrierten Staat lieben, und Europa nicht damit vereinbar sei. Europa werde mit dem Rückgang der Kaufkraft assoziiert. Auch die Ablehnung der Regierung Raffarin spielte eine Rolle, so ROYAL, so auch der Eindruck, dass er Frankreich nicht vor Gefahren beschützen könne. Da Europa mit Ultraliberalismus gleichgesetzt werde, seien die 40% „Ja“-Stimmen bemerkenswert. ROYAL warnte davor, zuerst die Massenarbeitslosigkeit in den Griff bekommen zu wollen. Man solle zuerst Europa stärken, dass sich dann in der Praxis bewähren und zeigen könne, dass es die großen Fragen lösen kann.ROYAL blieb gesamt betrachtet leider farblos und konnte die Erwartungen, die sie als „neuer Star“ der französischen Politik erweckte, leider nicht erfüllen.

Auch der Europaminister Luxemburgs, Nicolas SCHMIDT, ging auf das Verfassungs-Referendum in seinem Land ein. Auch in seinem Land hätte wie in Frankreich die Jugend stark dagegen gestimmt. Ohne die Bolkestein-Direktive wäre es für die Gegner schwieriger gewesen, konstatierte SCHMIDT. Irena LIPOWICZ meinte zur Verfassungsfrage, dass der Name „Verfassung“ die Bürger veränstige und man mehr vom Inhalt behalten könne, wenn man vom „hohen Ross des Namens“ heruntersteige.

Ein spannender Diskussionspunkt wurde von Irena LIPOWICZ eingebracht, die nochmals auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und den Vorwurf des Sozialdumpings einging. Sehr emotional schilderte sie, dass die Arbeit hier deshalb so billig angeboten werden könnte, weil ihr Staat bzw. ihre Steuerzahler den Rest bezahlen, etwa bei Arbeitsunfällen, die sich bei Schwarzarbeit ereignen. Auch Daniel COHN-BENDIT meinte, dass die Menschen eben als Schwarzarbeiter kämen, wenn die Übergangsfristen nicht aufgehoben werden würden.

Der grüne Abgeordnete Johannes VOGGENHUBER ging auf die Problematik ein, dass Europa als „Sonderdeponie der Probleme“ verwendet werde. Er kritisierte auch, dass die Politiker sich zu wenig um Europa kümmerten: „16 Stunden zu Hause Minister zu sein und eine Stunde Europa zu widmen funktioniert nicht!“ Er rief dazu auf, endlich das Europa des 19. Jahrhunderts zu verlassen und nicht mehr Polen, Österreich, Deutschland etc. als natürliche Gebilde zu sehen, während Europa als Konstrukt wahrgenommen werde. Zur Verfassungsdebatte meinte VOGGENHUBER, dass diese den 25 Regierungen abgetrotzt worden wäre, die sich nun klammheimlich freuen, dass die Verfassung tot sei. Sie sehen die Kritik und negativen Ausgänge der Referenden fälschlicherweise nicht als Kritik an sich selbst, sondern an Europa.

VOGGENHUBER war in seinen Wortmeldungen wie oft polemisch, konnte aber seine Rolle als provokanter „Farbpunkt“ eines Podiums aufgrund des ebenfalls anwesenden, wortgewaltigen Daniel COHN-BENDIT nicht ganz wie gewohnt einnehmen. COHN-BENDIT wurde seiner „Star-Rolle“ jedenfalls absolut gerecht.

Als Schlusssatz dieser Europa-Debatte möchte ich deshalb Daniel COHN-BENDIT zitieren, der wiederum den ersten Kommissionspräsidenten zitierte: „Wer nicht an Wunder glaubt, der ist kein Realist!"

Nadja Wozonig, 29. März 2006