Meilenstein oder Nebelwand?

Warum ein Weißbuch?

Die Europäische Kommission hat in ihrer letzten Sitzung vor der Sommerpause das lang erwartetete Weißbuch "European Governance" verabschiedet. Die Initiative dazu kam von Kommissionspräsident Prodi höchstpersönlich - nicht wie man meinen möchte als berechtigter Aufschrei gegen die peinliche Packelei der Staats- und Regierungschefs in Nizza, sondern mit der Absicht, das Image der Europäischen Kommission nach den Korruptionsvorwürfen und dem Rücktritt von 1999 aufzubessern.

Allerdings finden auch jüngste Entwicklungen, wie das Nein der Iren zum Vertrag von Nizza im Weißbuch ihren Niederschlag, ebenso wie widersprüchliche Ergebnisse von Meinungsumfragen in ganz Europa zur Zukunft des Kontinents. Einerseits erwarten die EuropäerInnen von der Europäischen Union politische Lösungen aktueller Probleme, wie Globalisierung, Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung und Nahrungsmittelsicherheit. Andererseits sind die an der Entwicklung, Beschlußfassung und Durchsetzung europäischer Politiken kaum interessiert.

Was steht im Weißbuch?

Das Weißbuch versucht daher, Wege aufzuzeigen, wie die Bevölkerung besser in die Politikgestaltung auf europäischer Ebene einbezogen werden kann. Es orientiert sich dafür an den Prinzipien der Offenheit, der Teilhabe, der Verantwortlichkeit, der Effektivität und der Kohärenz.

In Verfolgung der Prinzipien der Offenheit und der Teilhabe schlägt die Kommission vor, die bestehenden Einrichtungen des Ausschusses der Regionen und des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu stärken und die Einbindung der Zivilgesellschaft zu verbessern. Partnerschaften zwischen der Kommission und beratenden Foren sollen auf der Basis eines Verhaltenskodex formalisiert werden.

Die Prinzipien der Verantwortlichkeit und der Effektivität sollen durch stärkere Einbindung unabhängiger ExpertInnen und durch die Vereinfachung des Gemeinschaftsrechtes operationalisiert werden. Neben konventioneller Gesetzgebung will die Kommission in Zukunft verstärkt auf "Ko-Regulation" setzen. Freiwillige Vereinbarungen und Verträge mit den von einem Rechtsakt betroffenen Gruppen sollen die gesetzgeberischen Maßnahmen unterstützen, bzw. ersetzen. Zusätzlich will die Kommission durch die Methode der "offenen Koordination" die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten in Bereichen fördern, die bisher nicht in ihre Zuständigkeit fielen, z.B. die nationalen Bildungssysteme. Zur Überprüfung der Anwendung des bestehenden Gemeinschaftsrechtes in den Mitgliedsstaaten will die Kommission verstärkt auf autonome Regulierungsbehörden setzen.

Zur Anwendung des Prinzips der Kohärenz schlägt die Kommission vor, die Aufgaben der wesentlichen Institutionen einer Überprüfung zu unterziehen. Dabei soll der Rat alle Aspekte der EU-Politik koordinieren, das Europäische Parlament soll mit der Bevölkerung in Dialog treten und die Kommission soll Initiativen entwickeln, die Überwachung des Gemeinschaftsrechts gewährleisten und die Verträge hüten.

Wir Sind Europa zum Weißbuch:

Insbesondere an den letzten Vorschlägen wird deutlich, dass das Weißbuch nur den Status quo festschreibt. Wo bleiben wirkliche Vorschläge zur Demokratisierung der Union, z. B. durch eine Stärkung des Europäischen Parlamentes, indem es endlich jene Rechte bekommt, die für Parlamente in Demokratien üblich sind: das Initiativrecht und die Budgethoheit?

Während die Kommission also nicht bereit ist, das Initiativrecht abzutreten, sind Ko-Regulation und offene Koordination Mechanismen, mit denen sich die Kommission selbst schwächt, indem sie ihre Rechte willkürlich mit (selbsternannten) Interessensgruppen teilt oder in den Zuständigkeiten der Mitgliedsstaaten wildert. Wo bleiben Aussagen zu einer europäischen Verfassung, die die Kompetenzen zwischen Kommission und Mitgliedsstaaten klar regelt?

Mit den Vorschlägen zur BürgerInnennähe bleibt die Kommission ebenfalls auf halbem Wege stecken. Die Unübersichtlichkeit und Intransparenz der europäischen Politikentwicklung wird durch unklare Konsultationsmechanismen eher verstärkt denn verbessert. Ein paar neue ExpertInnen, Gremien und Foren und ein neues Diskussionsforum im Internet werden nicht ausreichen, um die Entfremdung vieler EuropäerInnen von den Einrichtungen der EU zu stoppen. Warum gibt es kein einziges Wort über die rechtliche Verbindlichkeit der europäischen Grundrechts-Charta als Teil einer europäischen Verfassung?

Das Weißbuch ist aus zwei Gründen eine Enttäuschung. Dass es die wirklichen Fragen einer europäischen Zukunft nicht stellt, ist einer davon. Die viel größere Enttäuschung liegt darin, dass es durch das Aufwerfen völlig neuer Fragen, z.B. der demokratischen Legitimität von Nicht-Regierungsorganisationen oder der Schaffung neuer Instrumente zur Umsetzung von EU-Politiken, die wirkliche Debatte über die Zukunft Europas verschleiert und verzögert. Schade um die verpasste Gelegenheit.

Margareta Stubenrauch, 5. August 2001