Das Ende des Kalten Krieges und der Wegfall des "Eisernen Vorhanges" hat die Grenzgebiete im Osten Österreichs vor neue
Herausforderungen gestellt. Die Grenzen, die in den Jahren 1918 bis 1921 zwischen den Nachfolgestaaten der Donaumonarchie errichtet wurden, hatten ein Gebiet mit jahrhundertelanger gemeinsamer
politischer, ökonomischer und kultureller Entwicklung durchschnitten. Der "Eiserne Vorhang" hat dann die Rigorosität der Trennung deutlich gemacht: Ostösterreich, das zusätzlich zwischen 1945 und
1955 die sowjetische Besatzung hinnehmen musste, blieb in seiner wirtschaftlichen Entwicklung hinter Westösterreich zurück. Die Folge war etwa die Abwanderung der Bevölkerung oder vermehrtes
Pendeln in die größeren Städte.
Der Fall des "Eisernen Vorhanges" wurde von den Bewohnern im Osten Österreichs freudig begrüßt, versprach er doch einen wirtschaftlichen Aufschwung und neue Kontaktmöglichkeiten. Doch bald
zeigten sich auch negative Effekte der Ostöffnung, wie erhöhte Kriminalität, Zunahme des Verkehrs, illegale Einwanderung, Schlepperunwesen. Außerdem mussten die nach 1945 jahrzehntelang
eingeübten Verhaltensweisen verändert werden.
Der in wenigen Jahren bevorstehende EU-Beitritt der österreichischen Nachbarstaaten erfordert wieder Anpassungsschritte in den Grenzregionen. Ein kurzer Überblick der Vor- und Nachteile (ohne
Gewähr auf Vollständigkeit) eines Beitritts Tschechiens soll das aufzeigen:
1) Vorteile
Der Beitritt Tschechiens bringt die Möglichkeit, die "alten" wirtschaftlichen und kulturellen Kontakte wiederherzustellen; nach dem Beitritt Tschechiens zum Euro-Raum und zu Schengen werden die
Grenzen de facto wegfallen.
Damit sind die Voraussetzungen für ein zusätzliches, kräftiges Wirtschaftswachstum in Zentraleuropa, einschließlich Ostösterreichs, gegeben.
Die Konsumenten in Ostösterreich werden (vor allem bei Dienstleistungen) von der größeren, grenzüberschreitenden Konkurrenz und den damit einhergehenden niedrigeren Preisen profitieren.
Wie alle EU-Mitgliedstaaten wird auch Tschechien in vielen Bereichen der Kontrolle der Europäischen Kommission und des Europäischen Gerichtshofs unterliegen. Bei Problemen mit Tschechien können
österreichische Staatsbürger diese EU-Institutionen anrufen.
2) Nachteile
Die Konkurrenz auf dem österreichischen Arbeitsmarkt wird durch zusätzliche Pendler (nicht sosehr durch Migration) aus Tschechien verstärkt werden; davon werden vor allem die schlecht
ausgebildeten Arbeitnehmer betroffen werden.
Die kleineren Firmen in den Grenzgebieten (Baufirmen, Dienstleister wie Friseure etc.) werden unter Konkurrenzdruck kommen; manche von ihnen werden in Konkurs gehen. Auch die Bauern werden den
Konkurrenzdruck spüren.
In der österreichischen Debatte über den Beitritt Tschechiens zur EU gibt es dazu noch zwei besondere "Knackpunkte": Temelín und die "Benes-Dekrete". Die Schwierigkeit für die österreichische
Politik bezüglich Temelín besteht darin, dass der Kampf gegen Kernkraftwerke in Österreich besonders populär ist. 1978 haben die Österreicher in einer Volksabstimmung die Inbetriebnahme des
österreichischen Kernkraftwerk Zwentendorfs mit knapper Mehrheit abgelehnt. Die Zahl der Kernkraftgegner erhöhte sich durch den Unfall in Tschernobyl 1986, der zu einer relativ starken
Verstrahlung in Österreich führte. Massiv wurde in Österreich dann gegen die nukleare Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf in Bayern agitiert. Im Sommer 1988 wurden 453.000 Einwendungen aus
Österreich gegen Wackersdorf übergeben; die österreichische Umweltministerin Marilies Flemming (ÖVP) erschien persönlich als Einwenderin beim Erörterungstermin in Bayern. Im Frühjahr 1989 wurden
die Bauarbeiten in Wackersdorf endgültig eingestellt.
Der "Kampf" gegen die Inbetriebnahme des Kernkraftwerkes Temelín nahe der österreichischen Grenze ist eine Fortschreibung dieser Entwicklung. Ein Konsens zwischen den im Parlament vertretenen
Parteien könnte eventuell eine Lösung herbeiführen, die den Beitritt Tschechiens zur EU nicht übermäßig behindert. Aber die Versuchung ist groß (für jede Partei), statt Staatsräson zu zeigen auf
die Karte des "Populismus" zu setzen. Ein Problem ist auch, dass jede Zurechtweisung Österreichs, sei es von der Kommission in Brüssel oder von tschechischer Seite, die Gegner von Temelín nur
bestärkt.
Die "Benes-Dekrete" betreffen, wenn überhaupt, nur einen kleine Anzahl von österreichischen Staatsbürgern. Trotzdem reagieren viele Österreicher auch dann verstört, wenn von tschechischer Seite
zugegeben wird, dass 1945/46 Unrecht geschehen ist, diese Angelegenheit aber nur mehr "historisch" gesehen und "vergessen" werden soll. Denn gerade diese Argumentation wird den Österreichern
kritisch vorgehalten, wenn es um die Verbrechen des Nationalsozialismus geht; dieses Unrecht dürfe nicht vergessen werden.
Die Lösung der Konfliktpunkte des österreichisch-tschechischen Verhältnisses wird nicht leicht sein. Nur besonnene Diskussion bringt die Sache weiter, gegenseitige Vorwürfe helfen nicht. Die
österreichische Politik hat es besonders schwer, denn bei der "Osterweiterung" der EU sind kurzfristige Probleme mit langfristigen Vorteilen aufzuwiegen. Der Horizont vieler Politiker reicht
meist nur bis zum nächsten Wahltag. Trotzdem sollte nicht die Zuversicht aufgegeben werden, dass letztlich die große Mehrheit der Bevölkerung Zentraleuropas, nach einem Jahrhundert der
Wirtschaftskrisen und mörderischer Konflikte, die Chance ergreifen wird und den nun gewonnenen Frieden absichern und ihren Wohlstand vermehren wird. Die EU-Mitgliedschaft der österreichischen
Nachbarstaaten, einschließlich Tschechiens, wird dazu einen wichtigen Beitrag leisten.
Univ.-Doz. Dr. Paul Luif, 22.11.2001