Falsch verstandene Subsidiarität

Der ehemalige deutsche Bundespräsident Roman Herzog hat am 15. Jänner 2010 gemeinsam mit anderen Autoren in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung den Artikel "Die EU schadet der Europa-Idee" veröffentlicht. Darin fordert er von den Mitgliedstaaten, Subsidiaritätswächter zu sein und beklagt gleichzeitig 27 verschiedene europäische Verbraucherschutzpolitiken. Außerdem verlangt er mehr Aufklärung der BürgerInnen über die europäische Politikgestaltung und polemisert trotzdem gegen "Brüssel". Wir Sind Europa hat daher folgenden Brief an Roman Herzog verfasst:

Sehr geehrter Herr Dr. Herzog,

In Ihrem Artikel „Die EU schadet der Europa-Idee“ vom 15. Jänner 2010 brechen Sie eine Lanze für die Subsidiarität. Dabei verschweigen Sie die Tatsache, dass viele Mitgliedsstaaten das Subsidiaritätsprinzip dazu verwenden, in bestimmten Politikbereichen gar nicht zu agieren, bzw. veraltete, etablierte nationale Regelungen fortzuführen. Dieser Missbrauch des Subsidiaritätsprinzips ist für das Voranschreiten der europäischen Integration äußerst bedauerlich.

Ihre Forderung nach der Rolle der Mitgliedsstaaten als „Subsidiaritätswächter“ erscheint umso weniger nachvollziehbar, wenn Sie am Ende Ihres Artikels zu Recht 27 unterschiedliche Verbraucherschutzordnungen kritisieren. Dieses Beispiel zeigt doch in geradezu klassischer Weise, dass man mit Subsidiarität nicht weiterkommt, insbesondere dann nicht, wenn nahezu jeder Mitgliedsstaat ein anderes Verständnis von Subsidiarität hat, die Briten in der Steuerpolitik, die Deutschen im Asylrecht und die Franzosen beim Beihilfenwesen.

Darüber hinaus verlangen Sie gerechtfertigterweise mehr Akzeptanz der BürgerInnen für europäische Entscheidungen. Leider trägt ihr Artikel nicht dazu bei, die zugegebenermaßen mitunter schwierigen Entscheidungsprozesse transparent zu machen.

„Wenn Brüssel Geld gibt, kann das fragliche Problem besser auf EU-Ebene gelöst werden. Und nur allzu gern gibt Brüssel deshalb Geld“. Dies lässt den falschen Eindruck aufkommen, „Brüssel“ entscheide über das europäische Budget. Wer ist „Brüssel“? Die Hauptstadt des Königreichs Belgien? Die Europäische Kommission? Weder noch. Häufig wird Brüssel synonym zur EU verwendet. Das heißt aber auch, dass die einzelnen Mitgliedsstaaten und das Europäische Parlament an den Entscheidungen beteiligt sind.

Daher wäre es im Sinne der Information der BürgerInnen wesentlich konstruktiver, diese Rolle zu beleuchten und darauf zu achten, ob nationale PolitikerInnen auf nationaler Ebene dieselben Dinge sagen und tun wie auf europäischer Ebene, anstatt in polemischer Weise gegen „Brüssel“ zu agieren.

Margareta Stubenrauch, 8. Februar 2010
Nachtrag: 2.10.2011 Leider bekamen wir auf unseren Brief keine Antwort.