Eine Begegnung mit neuen oder alten Nachbarn?

Romano Prodi sagte in seinem Grußwort zur Europawoche 2003:
"Jede Erweiterung bringt uns neue Nachbarn jenseits der Außengrenzen der EU. Wir müssen mit unseren Nachbarn - von Russland bis zum Mittelmeerraum - ein dichtes Netzwerk an Beziehungen knüpfen, das auf gemeinsamen politischen und ökonomischen Werten aufbaut".

Damit meinte er sicher auch die neue Republik, die ihre „Verfassung der Republiken Serbien und Montenegro“ zu Beginn des Jahres 2003 in Kraft gesetzt hat (Vorläufig, bis zum Jahr 2004. Danach ist es für beide der freien Entscheidung überlassen, ob sie getrennt oder gemeinsam weitergehen wollen). Diese Verfassung ist mehr als die Definition einer befristeten Gemeinsamkeit, sie ist ein echter Neuanfang nach Milosevic und Krieg. Unter der Führung des charismatischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic, am Höhepunk seiner leider viel zu kurzen politischen Karriere, verankert diese Verfassung jene Ziele für den neuen Staat, die er bei seinem Amtsantritt festgelegt hat:

- Marktwirtschaft
- Ein stabiles demokratisches System
- Integration in die internationale Gemeinschaft der demokratischen Staaten
- Eintritt in die EU zum nächstmöglichen Zeitpunkt

Die Reform eines Staates kann aber nur erfolgreich durchgeführt werden, wenn sie auch von den Menschen in der öffentlichen Verwaltung getragen und gelebt wird. Diese Erkenntnis, die sich noch nicht überall in Europa durchgesetzt hat, wurde in Serbien schon beim Amtsantritt der Regierung Djindjic berücksichtigt. Der Civil Service Council (CSC) als strategische Beratungsinstanz und die Agentur für den Aufbau der öffentlichen Verwaltung APAD (Agency of Public Administration Development) wurden im Februar 2001 gegründet und im Jahr 2002 wurde ein Ministerium für öffentliche Verwaltung und die Regionalverwaltungen eingerichtet. Das offizielle Österreich hat sehr schnell Unterstützung beim Aufbau der neuen Verwaltung angeboten und im Juni 2001 eine hochrangige Delegation des Civil Service Council zu einem Seminar in die Österreichische Verwaltungsakademie nach Wien eingeladen.

Soweit die „Staatsangelegenheiten“. Ein Zufall brachte mich als Leiter eines Workshops zur Personalentwicklung in dieses Seminar. Nach den üblichen Formeln der Begrüßung und Vorstellung der 40 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Jugoslawien - einer hochqualifizierten und auch hochrangigen Abordnung aus allen Bereichen der öffentlichen Verwaltung des Landes - , begann ich wie im Seminarplan vorgesehen einen Workshop zum Thema „Appraisal“. Noch während der Einleitung stellte eine Teilnehmerin die ganz einfache Frage: „Haben Sie eigentlich eine Ahnung von den wirklichen Problemen in unserem Land, und warum wir hier sind?“. Auf meine Frage an die anderen, ob noch mehr von ihnen der Meinung sind, „Appraisal Training“ wäre nicht das wichtigste Thema für sie, gab es ein eindeutiges JA als Antwort. In den folgenden beiden Stunden haben wir gemeinsam überlegt, in welcher Weise die Österreichische Verwaltungsakademie und das Bundesministerium für öffentliche Leistung und Sport (BMöLS) beim Aufbau einer neuen Verwaltung in Jugoslawien wirklich helfen können.

Bis dahin hatte ich nicht wirklich über das Schicksal Serbiens nachgedacht, ich lebte nicht mehr in Österreich und hatte irgendwann zur Kenntnis genommen, dass meine Jugenderinnerungen an Freunde, Verwandte, Urlaub, Cevapcici und Rakia aus den 50er und 60er Jahren nicht mehr mit der Realität übereinstimmen. In dieser Situation aber, mit diesen Menschen, fühlte ich so etwas wie Verantwortung. Ein ganz ähnliches Gefühl wie beim Thema Nationalsozialismus - keine persönliche Mitschuld an der Katastrophe – aber die Verpflichtung daraus zu lernen und zu helfen, soweit es in meinem Entscheidungsbereich liegt.

Es gab weitere Seminare in Wien und Beograd, lange Diskussionen, gegenseitige Besuche und als bisheriger Höhepunkt eine dreimonatige Ausbildung für Seminarleiter und Projektmanagement für die Öffentliche Verwaltung in Serbien. "Provision of Training Management of Reform Policies and Programs", noch von Premierminister Djindjic persönlich initiiert, finanziert vom United Nations Development Programm (UNDP), geplant und durchgeführt mit dem Wiener Unternehmen navreme knowledge development KEG. Mit diesem Projekt gingen wir als erfolgreichstes Projekt des UNDP Belgrade und als Sieger in der Kategorie „Jungunternehmer“ beim Wettbewerb um den „Constantinus“-Preis hervor. Constantinus, ein Preis, der auf Initiative der Wirtschaftskammer Österreich und dem Fachverband für Unternehmensberatung & Informationstechnologie, unterstützt vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit im Jahr 2003 zum ersten Mal vergeben wurde.

Für das Projekt wurden in einer öffentlichen Ausschreibung 19 Bewerberinnen und Bewerber nach den Kriterien: Hochschulabschluss, sehr gute Englischkenntnisse, Erfahrung als Vortragende oder Seminarleiter und Kenntnisse in der öffentlichen Verwaltung ausgewählt. Gemeinsam mit ihnen haben wir ein Seminarprogramm für Projektmanagement in der Öffentlichen Verwaltung mit professionellen Unterlagen in Serbischer Sprache, weiterführenden Literaturangaben und einem Handbuch für den Seminarleiter entwickelt. Danach haben die Seminarteilnehmer mit Unterstützung der Projektmitarbeiter über 130 Angehörige der öffentlichen Verwaltung in mehreren Seminaren in ganz Serbien in Projektmanagement ausgebildet. Neue berufliche Möglichkeiten für Trainer und zukunftsorientierte berufliche Weiterbildung für Mitarbeiter der Verwaltung wurden dadurch geschaffen.

Am 16. Dezember 2002 waren alle Trainer, alle Teilnehmer und deren Vorgesetzte zu einer großen „Auftaktveranstaltung für einen neuen Weg in der Verwaltung Serbiens“ eingeladen. Es herrschte Aufbruchsstimmung und altgediente Beamte und Politiker waren sich einig, dass hier etwas Außergewöhnliches geschehen war. Seminarteilnehmerinnen und Teilnehmer, ihre jeweiligen Vorgesetzten, ihre Lehrer, das Team das die Lehrer ausgebildet hatten und die Politiker und Sponsoren die das Projekt unterstützt hatten, waren eine Gruppe von Menschen geworden, die an einen kleinen Schritt in die richtige Richtung in diesem Land zu glauben begonnen hatten.

Es gibt auch Rückschläge - die Österreichische Verwaltungsakademie wurde vom zuständigen Ministerium geschlossen - vom UNDP konnten in diesem Jahr keine Mittel zur Weiterführung des Projektes zur Verfügung gestellt werden - der charismatische „Motor“ der Reform wurde ermordet – die Aufbruchstimmung vom 16. Dezember wurde wieder gedämpft - aber es geht weiter – es gibt gemeinsame Projekte mit Städten und Gemeinden – von der Agency for Public Administration Development werden gerade neue Aktivitäten im Bereich Ausbildung gesetzt und ganz privat habe ich neue Freunde gefunden und lebe inzwischen überwiegend bei unseren neuen, alten Nachbarn und Verwandten in Beograd.

Was mit dem 1. Weltkrieg getrennt wurde, sich nach dem 2. Weltkrieg vorsichtig wieder annäherte und mit dem Tod Titos erneut zusammengebrochen ist, gelingt vielleicht jetzt als eine europäische Geschichte mit vorläufigem Happy End und einer Perspektive für die nächste Stufe der Erweiterung der Europäischen Union. Alte, neue Nachbarn. Ich werde meinen Teil am Rande der „großen Politik“ weiter dazu leisten und kann nur alle dazu auffordern sich zu beteiligen. Auch ganz kleine Beiträge bringen uns dem großen Ziel – Frieden für die nächsten Generationen – näher.

Helmut Schramke, 27. Oktober 2003