Die Europäische Verfassung

Erinnern Sie sich noch an den Europäischen Rat von Nizza im Dezember 2000? Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union waren wieder einmal zusammengekommen, um nach einer Regierungskonferenz eine Änderung der Verträge zu beschließen, mit dem Ziel die EU institutionell auf die bevorstehende Erweiterung vorzubereiten.

Die Reform war bestenfalls Flickwerk und rief allgemein fast nur Kritik hervor. Zudem hatten die beteiligten Personen in der Öffentlichkeit eher den Eindruck streitender, nationalistischer Bazarhändler hervorgerufen anstatt eine Vision für Europa im 21. Jhdt. zu entwerfen. Und den meisten von ihnen war wohl selbst klar, dass der Vertrag von Nizza nur eine Etappe zu weiteren Reformschritten war.

Daher entstand in den folgenden Monaten die Idee eines Konvents über die Zukunft Europas, des sogenannten "Verfassungskonvents", der am 15. Dezember 2001 auf dem EU-Gipfel im belgischen Laeken einberufen wurde. Diesem Konvent kam die Aufgabe zu, die wesentlichen Fragen zu prüfen, welche die künftige Entwicklung der Union aufwirft, und sich um verschiedene mögliche Antworten zu bemühen.

Dabei standen vier Themen im Vordergrund:

 

- Eine bessere Verteilung und Abgrenzung der Zuständigkeiten in der EU
- Vereinfachung der Instrumente der Union
- Mehr Demokratie, Transparenz und Effizienz in der Europäischen Union
- Der Weg zu einer Verfassung für die europäischen Bürgerinnen und Bürger

Valéry Giscard d'Estaing wurde zum Präsidenten des Konvents, Guiliano Amato und Jean-Luc Dehaene zu Vizepräsidenten ernannt. Neben seinem Präsidenten und seinen beiden Vizepräsidenten gehören dem Konvent 15 Vertreter der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten (ein Vertreter pro Mitgliedstaat), 30 Mitglieder der nationalen Parlamente (2 pro Mitgliedstaat), 16 Mitglieder des Europäischen Parlaments und zwei Vertreter der Kommission an. Die Bewerberländer waren umfassend an den Beratungen des Konvents beteiligt. Sie waren in gleicher Weise wie die Mitgliedstaaten vertreten.

Und wenn der Konvent auch noch nicht die vollständige Einbindung der Bürgerinnen und Bürger Europas an der Gestaltung ihrer politischen Zukunft war, so ist das Konvents-Modell doch eine deutliche Abkehr vom reinen intergouvernementalen Modell der europäischen Zusammenarbeit, hinter das man in Zukunft wahrscheinlich nicht mehr zurückfallen kann.

Die österreichischen Repräsentanten im Konvent waren Hannes Farnleitner als Vertreter des Bundeskanzlers, Caspar Einem und Reinhard Eugen Bösch als Vertreter des österreichischen Parlaments, sowie Johannes Voggenhuber, letzterer allerdings in seiner Eigenschaft als Mitglied des Europäischen Parlaments.

An der Überbetonung der institutionellen Fragen (Ratspräsident, europäischer "Außenminister") änderte sich auch mit fortschreitender Arbeitsdauer des Konvents wenig. Gegen Ende der Arbeiten stand wie bei der europäischen Grundrechts-Charta wieder die emotionale und aus integrationspolitischer Sicht völlig irrelevante Frage nach dem "religiös-christlichen" Erbe Europas im Vordergrund. Um so erstaunlicher, dass sich die Konventsmitglieder Anfang Juni 2003 doch auf den Entwurf eines Verfassungsvertrages für Europa einigen konnten und diesen am 19./20. Juni 2003 dem Europäischen Rat in Thessaloniki präsentierten. Dieser begrüßte den Entwurf und legte den Zeitplan für die weitere Vorgangsweise fest. Im Oktober 2003 soll eine Regierungskonferenz einberufen werden, der Vertrag soll möglichst schnell nach dem Beitritt der neuen Mitgliedsstaaten am 1. Mai 2004 unterzeichnet werden. Damit muss Silvio Berlusconi den Traum von den "zweiten römischen Verträgen" wohl begraben, denn der italienische Ratsvorsitz endet bereits am 31.12.2003.

Was sind nun die Kernpunkte des Verfassungsvertrages? Die folgende Aufzählung ist eine subjektive, zumal sie sich auch bemüht, insbesondere die Neuerungen hervorzuheben. Außerdem bedürfen einige Punkte noch der weiteren Abklärung. In den vom Europäischen Rat begrüßten Teilen I und II sind aus meiner Sicht besonders wichtig:

Die Charta der Grundrechte der Union:

Die Grundrechtscharta, die noch beim Europäischen Rat von Nizza lediglich zur Kenntnis genommen worden war und daher keinerlei Rechtsverbindlichkeit aufwies, ist nun als Teil II integraler Bestandteil des Verfassungsvertrages. Dies ist ein entscheidender Fortschritt, den man nur begrüßen kann.

Rechtspersönlichkeit für die Europäische Union:

Die aufgrund des drei Säulen-Modells des Vertrages von Maastricht 1992 entstandene juristische Komplexität, dass nur die europäische Gemeinschaft Rechtspersönlichkeit besaß und somit das internationale Agieren der Union außerhalb der Zuständigkeit der Gemeinschaft teilweise beträchtlich erschwert war, ist nun beendet.

 

Ein neuer institutioneller Rahmen:
 

Der Verfassungsvertrag sieht neu das Amt des Präsidenten des Europäischen Rates vor. Dieser wird vom Europäischen Rat für zweieinhalb Jahre gewählt und leitet den Europäischen Rat. Nach den derzeitigen Befugnissen scheint dies eher eine administrative Funktion zu sein, doch wird sich wohl erst in der Praxis zeigen, welche konkreten Auswirkungen daraus abzuleiten sind. Eine weitere neue Funktion ist der sog. "europäische Außenminister", der vom Europäischen Rat ernannt wird. Er leitet die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, ist gleichzeitig Vizepräsident der Europäischen Kommission und führt den Vorsitz im Rat "Allgemeine Angelegenheiten", für den somit keine rotierende Präsidentschaft der Mitgliedsstaaten mehr gilt. Armer Joschka Fischer. Der derzeitige deutsche Außenminister wird in den Medien oft für diese Position genannt. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, muss man wohl eine mehrfache Persönlichkeitsspaltung hinter sich haben. Weniger flapsig ausgedrückt: ich kann mir diese mehrfache institutionelle Verankerung in der Praxis einfach nicht vorstellen, zumal der Präsident des Europäischen Rates unbeschadet der Zuständigkeit des Außenministers auch noch die Außenvertretung der Union in der Außen- und Sicherheitspolitik wahrnimmt.

Um in der Terminologie des Verfassungsvertrages zu bleiben: Unbeschadet der offensichtlichen Kompetenzverwirrungen mit dieser Doppelspitze in der Außenpolitik ist damit ein erster Schritt zu einer europäischen Regierung gemacht worden.


Zuständigkeiten:

In der Praxis hat sich wenig geändert, aber durch präzisere Formulierungen ist die Kompetenzaufteilung nun klarer: Die Union hat die ausschließliche Zuständigkeit für das Funktionieren des Binnenmarktes, die Währungspolitik (für die Euro-Länder), die gemeinsame Handelspolitik, die Zollunion und die Erhaltung der biologischen Meeressschätze im Rahmen der gemeinsamen Fischereipolitik. Geteilte Zuständigkeiten mit den Mitgliedsstaaten gelten für die Bereiche: Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts; Landwirtschaft; Verkehr; Energie; Wirtschaftlicher Zusammenhalt; Umwelt; Verbraucherschutz und Teile der Sozialpolitik, sowie des Gesundheitswesens.

Neue Instrumente:

Wesentliche Änderungen wird es bei den Rechtsinstrumenten geben. In Zukunft werden europäische Gesetze innerhalb der gesamten Union direkt gelten. Das entspricht den derzeitigen Verordnungen. Die derzeitigen Richtlinien werden durch europäische Rahmengesetze ersetzt, bei denen Ziele festgelegt, die dazu nötigen Mittel jedoch den Mitgliedsstaaten überlassen werden. Europäische Verordnungen werden in Zukunft - ähnlich wie in Österreich - zur Festlegung von Durchführungsbestimmungen für Gesetze erlassen weren.

Austritt aus der Union:

Wenn dies auch kein wünschenswerter Aspekt ist, so füllt die nun vorgesehene theoretische Möglichkeit des Austritts eines Mitgliedstaates doch eine Lücke, denn bisher war diese Situation einfach nicht vorgesehen und der EU-Beitritt daher eine Entscheidung, die nicht rückgängig gemacht werden konnte.

 

"Europäisches Volksbegehren":

Eine Million Bürgerinnen und Bürger aus einer "erheblichen" Anzahl von Mitgliedsstaaten können die Kommission auffordern, einen Gesetzesvorschlag in ihrem Zuständigkeitsbereich zu machen. Die nähere Ausgestaltung dieses "europäischen Volksbegehrens" ist allerdings noch nicht erfolgt. Dies ist ein – wenn auch bescheidener – Schritt zur weiteren Demokratisierung Europas.


Weiterführende Informationen:

Der Europäische Konvent

Margareta Stubenrauch, 29. Juni 2003