Literaturen ist – welche Überraschung - eine Literaturzeitschrift. Das Doppelheft Juli/August 2003 ist dem Thema "Europa – Schöne alte Welt"
gewidmet.
An hand mehrerer Themenblöcke werden Bücher besprochen. Der weitgespannte Bogen reicht von Erinnerungen an die europäischen Schreckenszeiten des 20. Jahrhunderts bis zu
einer Ortsbestimmung für einen zerstrittenen Kontinent. Besonders interessant ist auch der Bericht über die Ausstellung "Idee Europa – Entwürfe zum ewigen Frieden" des Deutschen Historischen
Museums in Berlin. Karl Schlögel lobt die Fülle der Ausstellungsstücke, die über die Oxforder Weltkarte von 1110 über ein Notenblatt der 9. Symphonie Beethovens bis zu den Originaldokumenten des
Friedens von Brest-Litowsk reichen. Und obwohl es besonders schwer ist, den Charakter einer Ausstellung in Worte zu fassen, bekommt man Lust, sich das anzusehen und beginnt sich leise zu fragen,
warum das Kunsthistorische Museum in Wien für seine große Ausstellung des Jahres 2003 wirklich kein spannenderes Thema finden konnte als "Kaiser Ferdinand I – Das Werden der
Habsburgermonarchie".
Ein weiterer Schwerpunkt des Heftes ist eine Umfrage unter führenden zeitgenössischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Ein paar Antworten auf die Frage "Was bedeutet
Ihnen Europa" möchte ich hier gerne zitieren.
A. L. Kennedy, 1965 in Schottland geboren, schreibt: Seit Jahren versuche ich mich zu trennen, denn die Schönheit EUROPAS (Hervorhebung im Original) ist eine Last, eine
alternde Diva mit Dreck am Stecken, die die Fenster mit Fotografien verklebt, um Nichten und Neffen am Aufbruch zu hindern. Doch sie hat die Geschichte zu oft erzählt, sie hat ihr Publikum längst
verloren auf der Terrasse eines künstlichen Gartens, in dem man unmöglich an Frischluft kommt.
Jonathan Franzen, 1959 in den USA geboren meint: Nichts auf der Welt übertrifft die Schönheit und das menschliche Maß guter europäischer Städte. Oft, wenn ich durch deren
Straßen gehe, kommt mir der Gedanke, dass ich ein ganz anderer Mensch hätte sein können, einer, der eine ganz andere Sprache spricht und ein ganz anderes Leben führt.
Per Olov Enquist, 1934 in Schweden geboren, fragt: Müssen wir in Europa wirklich zu dieser
neurotischen, verschreckten und aggressiven Beziehung zwischen der Alten Welt und den USA beitragen? Sollten wir die USA nicht einfach eine Zeit lang mit ihren Problemen in Ruhe
lassen?
Andrzej Stasiuk, 1960 in Polen geboren, bleibt skeptisch: Ich verspüre Melancholie. Das ist mein europäisches Gefühl. Als halber Barbar aus einem Randgebiet Europas bin ich
ziemlich spät auf diesem Kontinent erschienen, und ich betrachte ihn ein wenig als Heimat, ein wenig als Beute, ein wenig als schöne Erzählung. Ich bewundere seine Vergangenheit und seine
Legende, ich bewundere seine ursprüngliche Wildheit, die sich durch ein Wunder in Kultur und Zivilisation verwandelte, die weit über dieses bescheidene Stück Land hinausstrahlt. Doch es gelingt
mir nicht, diesen Glauben und diese Bewunderung auf die Zukunft zu übertragen.
Nein, ich habe keinen Vertrag mit Literaturen. Dennoch empfehle ich das Sommerheft über Europa allen Europäerinnen und Europäern.
Margareta Stubenrauch, 15. August 2003