Darf der Arbeitsmarkt ein Markt sein?

Dr. Hannes Swoboda, Abgeordneter der sozialdemokratischen Partei Österreichs zum Europäischen Parlament, führt am 02.10.2001 auf seiner Internet-Seite (Link mittlerweile stillgelegt)) zu den Voraussetzungen einer erfolgreichen EU-Osterweiterung wie folgt aus (auszugsweise):

Unter der Überschrift "1. Marktströmungen vermeiden!" liest man:

Jeder Erweiterungsprozeß, insbesondere ein solcher um 10 Länder Osteuropas, bringt Anpassungsprobleme mit sich. Das betrifft die bestehenden Mitglieder der Union ebenso wie die Beitrittskandidaten.
Vieles kann und muß schon vor dem Beitritt geschehen. Manche Anpassungsschritte sind aber langsamer und damit längerfristig zu vollziehen. Dafür brauchen wir Übergangsregelungen. Aus österreichischer Sicht betrifft das vor allem den Arbeitsmarkt. Diesbezüglich kann und muß es ein Hineingleiten in einen gemeinsamen Arbeitsmarkt geben. Alles andere könnte inakzeptable Marktstörungen bewirken bzw. Ängste vor solchen Störungen hervorrufen, die den Erweiterungsprozeß torpedieren würden. Wie schon erwähnt: Niemand kann heute die Zuwanderungs- oder Pendlerneigung von morgen voraussagen, aber wir sollten gemeinsam mit unseren Nachbarn Vorsichtsmaßnahmen treffen.

 

Unverantwortlich ist es, die Probleme des Einpendelns oder des Zuwanderns als unbewältigbar darzustellen und das Schreckgespenst eines überschwemmten Arbeitsmarktes heraufzubeschwören. Aber genauso unverantwortlich wäre es, die Notwendigkeit von Vorsichtsmaßnahmen und Übergangsregelungen zu leugnen, um unseren Nachbarn eine kurzfristige Freude zu bereiten.

Beim Lesen dieses Textes bemerkt man den Widerspruch in sich. In der Überschrift meint der EU-Parlamentarier, dass es gelte, "Marktströmungen" zu vermeiden. Ich würde es so interpretieren, dass man den Markt ausschalten solle. Weiters kann man lesen, dass ein sofortiger freier Arbeitsmarkt "inakzeptable Marktstörungen" bewirken würde, sowie den bedenklichen Satz, dass man mit und gegen die Nachbarn Vorsichtsmaßnahmen zu treffen habe.

Einmal abgesehen vom Eindruck, dass in oben erwähnten Zeilen des Verfassers, der Arbeitsmarkt die Eigenschaft eines Marktes verlieren soll, möchte ich dem Inhalt einen Artikel der Salzburger Nachrichten vom 10.11.2001 entgegenhalten. Darin kann man unter "Mit Salamitaktik in die EU" – auszugsweise - folgendes lesen:

In Osteuropa rufen die von Österreich und Deutschland verlangten Übergangsfristen Kopfschütteln hervor. Westungarn hat schon jetzt zu wenig Arbeitskräfte.

GYÖR, BUDAPEST (SN-lei).

Der Fußboden ist so sauber, dass man darauf essen könnte. Die Werkshalle ist so lang, dass sich die Arbeiter auf Fahrrädern bewegen. Und die Schlitten, die die Fabrik letztlich verlassen (Audi A3 ab 300.000 S, TT Coupe` und TT Roadster ab 500.000 S), sind so teuer, dass sie sich kaum ein Ungar jemals leisten kann. Audi-Werk Györ, eineinhalb Autostunden von Wien. Seit acht Jahren produziert der deutsche Konzern in Ungarn Motoren, seit gut drei Jahren werden hier auch Autos zusammengebaut.

Mit 5000 Mitarbeitern ist Audi das zweitgrößte Unternehmen Ungarns (nach der Öl- und Gasgesellschaft MOL). Die Ingolstädter sind begehrte Arbeitgeber. Dennoch sei es schwer, genug Mitarbeiter mit der benötigten Qualifikation aufzutreiben, berichtet Geschäftsführer Heinrich Franke: "In Györ beträgt die Arbeitslosigkeit nur 3,7%. De facto herrscht Vollbeschäftigung". Audi ist gezwungen, im Umkreis von 60 Kilometern zu rekrutieren.

"Man kriegt schwer Arbeitskräfte", bestätigt Manfred Fiedler, Direktor im Philips-Werk Szekesfehervar, eine Stunde südlich von Budapest. Die Elektronikindustrie steckt zwar in der Krise. Auch Philips (5000 Beschäftigte in vier Werken) muss Kapazitäten abbauen. Fiedler spürt die Austrocknung des Arbeitsmarktes dennoch: Vor allem Spezialisten seien Mangelware und würden immer teurer.

Trotz des Gefälles rechnet keiner der lokalen Manager mit einer großen Migrationswelle Richtung Österreich nach einem EU-Beitritt Ungarns. In Ostungarn herrscht zwar eine größere Arbeitslosigkeit als im prosperierenden Westen, in der Stadt Miskolc (Nordosten) beträgt sie beispielsweise 18%. Jedoch ist die Mobilität gering. Der Wirtschaft gelingt es nicht, die Arbeitslosen aus dem Osten in den Westen zu bringen. Sie weigern sich, Wohnung und Familie zu verlassen. "Wie soll dann die große Migration über die Grenze funktionieren?", fragt sich der burgenländische Unternehmer Michael Leier, der in Ungarn 19 Unternehmen mit insgesamt 1500 Mitarbeitern betreibt. Er sieht in den siebenjährigen Übergangsfristen, die Österreich und Deutschland für den Zuzug von Arbeitskräften verlangen, nichts als eine "Beruhigungspille" für die Bevölkerung. Nötig seien diese Barrieren nicht.

Die Regierung denkt ähnlich: Sie schätzt das Migrationspotenzial auf rund 20.000. Ungarn hat die Frist zwar als erster Beitrittskandidat akzeptiert, versucht sie nun aber in einer Art Salamitaktik schnell wieder loszuwerden. In bilateralen Verhandlungen will es Österreich dazu bewegen, nur für die ersten ein, zwei Jahre Quoten zu fixieren. Dabei würde eine Verdoppelung der ungarischen Arbeitskräfte in Österreich (3% aller ausländischen Arbeitskräfte) genügen, sagt Peter Gottfried, Leiter des Staatssekretariats für Integration im Außenministerium. Irland, Dänemark, Schweden und Holland hätten bereits zugesagt, von den Fristen keinen Gebrauch zu machen, Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien wollen ebenfalls liberal sein, falls sich die deutschsprachigen Länder nicht zu sehr abschotteten.

Zur Zeit sind 11.000 ungarische Arbeitskräfte in Österreich gemeldet (ohne Diplomaten).

Wir Sind Europa ist der Meinung, dass die parlamentarische Bürger/innen-Initiative für einen freien europäischen Arbeitsmarkt der bessere und fairere Zugang zur Erweiterung der Europäischen Union ist. Die österreichischen Parteien sollten nicht nur reine Klientelpolitik im Auge haben – bisher hat sich ja keine der im österreichischen Parlament vertretenen Parteien meines Wissens nach gegen diese Übergangsfristen ausgesprochen – sondern differenzierter und mutiger agieren. Österreich hat sich mit dem EU-Beitritt zu den vier Freiheiten bekannt, also neben freiem Waren- und freiem Kapitalverkehr auch zum freien Personenverkehr und zur Dienstleistungsfreiheit. Eine neue Mauer gegen die Menschen in den Beitrittsländern ist für Wir Sind Europa jedenfalls das falsche Zeichen!

Hannes Heissl, 16. November 2001