Buchpräsentation: "Die Beneš-Dekrete"

Am 6. November 2002 luden der Czernin-Verlag, das Demokratiezentrum Wien und das Österreichisch-Tschechische Dialogforum zur Präsentation des Buches "Die Beneš-Dekrete" von Barbara Coudenhove-Kalergi und Oliver Rathkolb in die Diplomatische Akademie. Das Buch ist nicht nur von historischem Wert, sondern ist darüber hinaus höchst aktuell, wie die aktuelle politische Debatte in den beiden Ländern zeigt. Der Sammelband - er enthält Beiträge von österreichischen, tschechischen, ungarischen und amerikanischen Autoren - zeigt auf, dass ein und dieselbe Erzählung in den beiden Ländern Österreich und Tschechien ganz unterschiedlich wahrgenommen wird.

Auf beiden Seiten herrscht ein Defizit der Aufarbeitung des Themas. In Tschechien gab es bisher kaum Bereitschaft, sich des Themas anzunehmen, in Österreich bewirkte die rechtsextreme Besetzung lange Zeit ein Tabu. Barbara Coudenhove-Kalergi zeigt ein differenziertes Bild der sogenannten Sudentendeutschen, die es in diesem Gesamtbegriff gar nicht gibt, da große regionale Unterschiede zwischen den deutschsprachigen Tschechen bestanden. Auch wenn die Mehrheit lieber bei Deutschland sein wollte, als eine Minderheit zu sein, galten sie zum Teil zu Unrecht als Nazis, es gab eine sehr große Anzahl an wegen Widerstands exekutierten "Sudetendeutschen".

Coudenhove-Kalergi versucht auch um Verständnis für die tschechische Seite zu werben. Es habe sich während des Krieges das Bewußtsein entwickelt, dass ein Staat mit einer so großen Minderheit nicht möglich sei - v.a. nachdem, was deutsche Truppen in Tschechien angerichtet hatten. "Wenn die Österreicher sagen: nehmt die Beneš-Dekrete zurück, dann sagen die Tschechen: nehmt ihr den Zweiten Weltkrieg zurück". Auch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Mehrheit der Sudetendeutschen den tschechoslowakischen Staat ablehnte. "Was würden wie sagen, wenn zum Beispiel eine slowenische Minderheit ein Drittel des Landes bewohnen würde, Österreich hasst und sich weigert, Deutsch zu lernen? Man wäre froh, dass man sie los ist."

Barbara Coudenhove-Kalergi ging auf die Situation der Tschechen in Wien ein - Wien war etwa zur Jahrhundertwende immerhin die zweitgrößte tschechische Stadt, die Hälfte der Bevölkerung Wiens stammte von dort, durften allerdings nicht tschechisch sprechen. In Erinnerung blieb in diesem Zusammenhang der Satz Karl Luegers, "wer sich nicht beugen läßt, muss gebrochen werden"... Coudenhove-Kalergi merkte an, dass "gebrochene Menschen" nicht immer die angenehmsten sind und dies wohl einige Charaktereigenschaften der Wiener geprägt habe.

Der Historiker Oliver Rathkolb zeigte die Entwicklung der Debatte in Österreich selbst auf. Er erklärte, dass nach 1945 hier keine Solidarität mit den Sudetendeutschen herrschte, sondern eher die Meinung: "Ihr habt mit der Vertreibung Recht gehabt". Erst ab 1949, als erste Landsmannschaften gegründet wurden, köchelte das Thema langsam vor sich hin, wurde aber kein innenpolitisches Thema. Rathkolb sieht mehrere Gründe dafür, dass das Thema plötzlich ins öffentliche Bewusstsein rückte: Einerseits die veränderte Sichtweise und Auseinandersetzung mit Menschenrechten. Zweitens die Auseinandersetzung mit dem Holocaust und Restitutionen. Es gab also die zunehmende Beschäftigung von Historikern auf beiden Seiten mit dem Thema, ausgelöst einerseits durch die eigene Vergangenheitsbewältigung, andererseits durch das Ende des Kalten Krieges, das es erstmals auch tschechischen Historikern möglich machte, über das Thema zu diskutieren. Dazu kam in Österreich, dass die FPÖ, die die Restitutionsfrage immer auch mit den Sudentendeutschen verknüpfte, es zu einem öffentlichen Thema machte.

Das Buch, das eine vielschichtige Perspektive auf das aktuelle Thema "Beneš-Dekrete" bietet, kann sicherlich auch dazu dienen, den Prozeß der Geschichtsaufarbeitung weiter zu treiben. Aber Barbara Coudenhove-Kalergi stellte auch klar: "Der Prozeß der Aufarbeitung [auf der tschechischen Seite, Anm.] wird eher kommen, wenn es keine Vetokeule gibt."

Barbara Coudenhove-Kalergi, Oliver Rathkolb (Hg.): Die Beneš-Dekrete. Czernin-Verlag, Wien 2002, 223 S, 19 €.

Nadja Wozonig, 10. November 2002